Welches sind denn gerade für die mittelständische Industrie die besonderen Vorteile eines Binnenmarkts?
Wir haben vor kurzem eine Studie veröffentlicht zu den Kosten einer Desintegration Europas. Also was wäre, wenn es die europäische Einigung nicht gäbe? Da kann man sehr schnell sehen, dass die Industrie der größte Verlierer wäre, denn dort ist die europäische Integration am weitesten fortgeschritten. Das ist ja auch kein Wunder; Industriebetriebe gerade im Maschinenbau haben Exportquoten jenseits der 80 Prozent. Davon geht ein großer Teil in den Binnenmarkt, und die Firmen haben auch sehr hohe Importquoten, weil sie spezialisierte Teile oder Rohstoffe brauchen, die aus dem großen Binnenmarkt kommen. Die Industrie ist ein besonderer Nutznießer des Binnenmarkts, etwa im Vergleich zum Dienstleistungssektor.
Welche Rolle hat der Euro für den Binnenmarkt gespielt?
Er war sicherlich ein Beschleuniger der Integration und hat die Möglichkeiten, die der Binnenmarkt bietet, noch einmal gehebelt. Durch den Wegfall von Wechselkursrisiken und Absicherungsrisiken einerseits und andererseits durch die höhere Transparenz ist es – gerade für Mittelständler – sehr viel leichter geworden, den Markt zu bearbeiten. Das hat ihre Wettbewerbssituation verbessert. In Summe führt das dazu, dass der Euro den Binnenmarkt sozusagen schmiert. Für Deutschland haben wir einen Wohlfahrtsgewinn von 0,7 Prozent errechnet. Das sind 25 Milliarden Euro pro Jahr in aktuellen Preisen. Hinzu kommt das Schengen-Abkommen, das ähnlich wie der Euro ein Schmiermittel ist. Die Schengen-Mitgliedschaft von Ländern, die nicht dem Binnenmarkt angehören, fördert den Handel und hier wiederum vor allem die Industrie. Schengen ist laut unseren Studien mindestens so wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts wie der Euro.
Andersherum gefragt, welches sind denn die größten Webfehler des Binnenmarkts?
Der Binnenmarkt ist vor allem in den letzten 15 bis 20 Jahren extrem bürokratisiert worden, und damit ist auch die Idee eines homogenen Markts wieder ein Stück weit kaputt gegangen. Die Entsenderichtlinie ist ein schönes Beispiel dafür. Sie soll eigentlich sicherstellen, dass es ein Level-Playing-Field gibt, aber im Versuch, Ordnung und fairen Wettbewerb zu schaffen, hat man am Ende doch wieder Handelshemmnisse und Bürokratie geschaffen. Und das ist leider bei vielen Dingen systematisch. Das liegt auch an 27 Nationalstaaten, die ein gewisses Maß an Autonomie haben wollen. Ein anderes Beispiel: Die USA hatten von Anfang an einen einheitlichen Datenraum, von Anfang an konnten die amerikanischen Firmen im Digitalisierungsprozess auf die große Skalierung setzen. Europa kommt systematisch immer zu spät, und das kostet uns viele Jahre. Aber wir sind eben Europa und nicht die Vereinigten Staaten.
Gäbe es für die Weiterentwicklung des Binnenmarkts denn einen sinnvolleren Ansatz, als immer erst auf Krisen zu reagieren?
Die Politik muss die Reformfelder pro-aktiv ausmachen. Ein großes Thema ist der Arbeitsmarkt. Es wird noch nicht richtig als europäisches Thema angegangen, aber wir brauchen europäische Ansätze, weil wir überall Arbeitskräftemangel haben. Wir müssen uns viel stärker fragen, was für Europa und den Binnenmarkt hier angemessen ist. Sonst kommen wieder Barrieren.
Sind Sie beim Thema Energie und Strommarktdesign zuversichtlicher, weil der Krieg die EU zwingt zu handeln?
Das ist sicherlich so, da ist jetzt die Dringlichkeit gegeben. Es braucht eine stärkere strategische Perspektive auf die Energiebedarfe des gemeinsamen Binnenmarkts. Hier passiert etwas, auf dem Arbeitsmarkt dagegen sehe ich das noch nicht. Wo wir auch noch hinterherhängen, ist beim gemeinsamen Datenraum. Brüssel pusht das zwar, aber noch nicht genug. Wie kriegen wir die zahlreichen Zielkonflikte hier aufgelöst: einerseits einen Datenraum schaffen, der wirtschaftlich nutzbar ist, andererseits die europäischen Datenschutzrichtlinien einhalten? Diese Konflikte müssen rechtzeitig gelöst werden, bevor es brennt. Und wir müssen uns fragen, wie wir die Schieneninfrastruktur europäisieren können, so dass Logistikkosten sinken.
Wie gut ist der Binnenmarkt denn für den immer stärkeren Wettkampf in der Triade gerüstet? Sind wir auf Augenhöhe mit den USA und China?
Es ist leider so, dass wir nicht auf Augenhöhe agieren können, weil wir keine einheitliche politische Macht sind. Die Welt ist inzwischen sehr stark geo-ökonomisch geprägt, das wirtschaftliche Gewicht ist ein Machtfaktor, der mit sicherheitspolitischen und außenpolitischen Machtfaktoren zusammenwirkt. Und da sind wir schwach. Das hat auch damit zu tun, dass wir 27 Außenminister, Präsidentinnen und Präsidenten haben. Das führt dazu, dass wir zwischen China und USA eine andere Rolle spielen müssen. Wir sind nicht für diese Art von Konflikt aufgestellt, die die Amerikaner und Chinesen miteinander ausführen. Andererseits macht uns die Diversität Europas resilienter. Wir müssen verstehen, dass unser Mehrwert in solchen geostrategischen Konflikten im Binnenmarkt liegt. Der ist auch ein machtpolitischer Faktor. Wir können ihn einsetzen als Belohnung oder eben auch als Druckmittel.
Eigentlich müssten dann doch viel mehr Länder um ein Freihandelsabkommen mit der EU buhlen…
Das tun sie auch, bis sie mit Abgeordneten aus dem EU-Parlament gesprochen haben. Und dann hören sie, dass sie auch ihr Sozialrecht ändern sollen, ihr Umweltrecht und anderes, und damit macht Europa diese Freihandelsabkommen für viele Länder sehr teuer. Mercosur ist ein gutes Beispiel. Das Abkommen würde Sinn machen aus vielen Perspektiven, aber es ist nicht klar, ob die Giftpillen, die wir hineinpacken, für die südamerikanischen Länder verdaubar sind. Mit den Freihandelsabkommen werden zu viele Nebenbedingungen verknüpft.
Aber nehmen wir das Beispiel Indien, die in China ihren großen Rivalen haben. Für Indien müsste es doch umso attraktiver sein, mit der EU ein Freihandelsabkommen zu schließen.
Der europäische Markt ist schon attraktiv für die Inder, aber es gibt Bedingungen, die für sie schwer zu schlucken sind – besonders im Dienstleistungsbereich. Da tun wir uns schwer, da ist unser Binnenmarkt auch nicht so ausgeprägt. Indien ist jetzt zur bevölkerungsstärksten Nation der Welt geworden. Das ist kein Land, das einfach einen europäischen Entwurf für ein Freihandelsabkommen annimmt. Indien sieht sich als künftige Hegemonialmacht. Sie wollen daher auf Augenhöhe mit Europa sprechen, und wenn wir lange Listen mit Zusatzabkommen mitbringen, dann ist das schwierig. Das heißt nicht, dass der Binnenmarkt nicht attraktiv für sie wäre. Indien würde gerne am Binnenmarkt andocken, aber eben nicht zu jedem Preis.
Der Brexit hat den Binnenmarkt deutlich verkleinert, jetzt klopfen aber diverse Beitrittskandidaten an die Tür. Kann so ein Binnenmarkt auch 30 oder 35 Staaten umfassen?
Das kann man so pauschal nicht beantworten. Der Binnenmarkt ist schon jetzt sehr komplex, und wir sollten in mehr Bereichen vom Prinzip der Einstimmigkeit wegkommen. Wenn das nicht gelingt, ist jedes neues Mitglied eine neue Belastung. Wenn wir dann in Krisenzeiten eine Veränderung brauchen, muss man sich Sorgen machen, ob wir die Geschwindigkeit haben, die wir benötigen, um effiziente Lösungen umsetzen zu können. Was man ehrlicherweise auch sagen muss: Der Westbalkan ist rein wirtschaftlich gesehen irrelevant. Da wäre es wichtiger, die inzwischen existierenden Gräben mit der Schweiz nicht noch tiefer werden zu lassen. Der Westbalkan ist kein Binnenmarktthema, er ist aus geostrategischen Gründen wichtig.
Braucht es eine große Reform des Binnenmarkts?
Worüber wir reden sollten, ist, ob dieses monolithische Bauwerk der EU zukunftsfähig ist. Brauchen wir vielleicht einen Binnenmarkt in zwei Stufen? Mit den Briten haben wir wohl den großen Fehler gemacht, darauf zu pochen, dass es die vier Freiheiten nur in Kombination gibt. Hätten wir die Briten bei Gütern und Dienstleistungen im Binnenmarkt gehalten und dafür den gemeinsamen Arbeitsmarkt aufgegeben, wäre es besser als das, was wir jetzt haben.
Aber dann wären andere Länder gekommen und hätten auch gesagt, diese oder jene Bedingung des Binnenmarkts schmeckt uns nicht…
Aber wir reden bei Großbritannien von der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU, die, so zeigen es viele Studien, wirtschaftlich aus der Union viel weniger Nutzen gezogen hat als Deutschland oder Frankreich und viel weniger als etwa Dänemark. Natürlich kann es keine freie Rosinenpickerei geben. Aber es muss vielleicht zwei Wege geben, im Binnenmarkt teilzunehmen. Güter und Dienstleistungen auf der einen Seite, Arbeit auf der anderen. Man könnte die Vorteile des Binnenmarkts haben, auch ohne Arbeitsmarktintegration. Das wäre wichtig, um die Briten wieder einzubinden, und es wäre auch wichtig mit Blick auf die Türkei, die Ukraine und andere Länder an unseren Grenzen. Dann könnte man eine Zollunion schaffen, ohne dass man gleich über Sozialsysteme reden muss oder über Fragen der Besteuerung von Arbeit.
Alle sagen, der Binnenmarkt ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Stimmt das wirklich?
Der Binnenmarkt ist das Beste, das Europa hervorgebracht hat. Ist er gut genug? Nein. In einer Welt, die komplizierter geworden und in der allein das Bewahren von Wohlstand schwieriger geworden ist, müssen wir mehr aus diesem gemeinsamen Wirtschaftsraum machen. Aber hätten wir ihn nicht, wäre das wirtschaftlich ein Riesenschaden.